Mittwoch, 8. Juli 2015

Ernst-Jandl-Lyrik-Tage-Buch



Freitag, 12. Juni:
17:30 Uhr: Die erste Veranstaltung der Lyriktage nennt sich Mürzer Gespräche zur Dichtung, bei der im Gemeindesaal im Stift Münster Peter Rosei, der momentan die Ernst-Jandl-Dozentur für Dichtung innehat, Thomas Eder, Professor am Institut für Germanistik an der Universität Wien, und Kurt Neumann, der zum Beispiel das Programm der alten Schmiede erstellt, über Dichtung diskutieren. Sprache ist voll von dynamischen Bildern und Musik, Pakte werden geschlossen und wir bewegen uns von Kugel zu Kugel zu Kugel – von der realen Welt zu den psychischen Prozessen des Autors zum Werkzeug des Schreibens. Geschwätzigkeit sei das Letzte, meint Rosei und dreht sich weiter im Kreis um die Kunst, Diskurse, Empathie und das Denken. Am Ende rauchen die Köpfe, der Redaktion stehen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben und viele Begriffe – wie der der Kunst oder des Diskurses – bleiben ungeklärt. Lyrik-Vorlesungen sind, so Rosei, nur Versuche, teilweise zu sagen, was hier vorgehe. Er könnte es ein wenig verständlicher sagen. Auf Seite XX ist eine kritische Reflexion von Doris Mayer über diesen Vortrag nachzulesen.


19:30 Uhr: Wir wechseln in die Pillhofer Halle, in der Christian Muthspiel eine Soloperformance nach Lyrik von Ernst Jandl gibt. Ohne Pauken und Trompeten, aber mit einigen Loopstations, Klavier, Posaune, Stimme und allerlei Pfeifen webt Muthspiel im Schweiße seines Angesichts wunderbare Klangteppiche. Ganz vertieft in seine orchestralen Stücke verrenkt er sich gekonnt zwischen den Instrumenten, vom Band hört man Jandls unverkennbare Lesungen. Die Stimmung und der Stil wechseln unaufhörlich von Vogelgezwitscher über Jazz bis zum Jodeln. Die Redaktionen sind alle durch die Bank sehr beeindruckt. 


Samstag, 13. Juni:
10:00 Uhr: Der erste Block von Lesungen beginnt, vom Jurymitglied des Ernst-Jandl-Preises Paul Jandl, nicht mit dem Namensgeber der Veranstaltung verwandt, moderiert. Uljana Wolf liest aus Falsche Freunde und meine schönste Lengevitch zum Wasserglas. Mit musikalischer Stimme malt sie wunderschöne Bilder, Wortkaninchen werden von Philosophen im Schlafanzug aus dem Hut gezogen und die Autorin geht „ins Tingeltangel language angeln“. Darauf folgt Ulf Stolterfoht mit Was Branko sagt, ein Text, indem sich viele Holzknechte und andere Menschen auf den Weg machen, zum Beispiel in die „Eichhörnchenstadt“. Monika Rinck liest aus Hasenhass und Honigprotokolle, es geht um Heiterkeit, Quallen-Quartette und darum, dem Grund auf den Grund zu gehen.
Nach einer kurzen Mehlspeisenpause zum Kopf-Durchlüften geht es weiter mit Nadja Küchenmeister und Gedichten aus ihrem Werk Unter dem Wacholder, mit klaren, nüchternen Worten beendet sie ihre Lesung mit der Zeile „Alle sprachen ohne Grund“. Michal Hammerschmid liest kürzere Texte aus die drachen die lachen. Kindergedichte, spielt mit Lautstärken und eingängigen Reimen. Fazit: ein abwechslungsreicher erster Lesungsblock mit vielen verschiedenen, spannenden Autoren. 






14:30 Uhr: Der zweite Lesungsblock wird von Klaus Reichert, ebenfalls einem Jurymitglied, moderiert, der den Dichtern nach der Lesung auch ein paar Fragen stellt. Simone Kornappel liest mit eindringlicher Stimme aus Raumanzug Würfeltexte, die ohne Kohärenz von jeder der sechs Seiten aus gelesen werden können sollen. Die Themen, wie Androiden, sind aktuell und spannend, die Inszenierung etwas gewöhnungsbedürftig. Jan Volker Röhnert spielt in seinem Werk Wolkenformeln mit Erwartungen und Widersprüchen und malt schöne Sprachbilder wie von den „Sprechblasen ausgetretener Kaugummis“. Silke Scheuermanns Gedichte aus Skizze vom Gras tragen Titel wie „Der Dodo“ oder „Die Wandertaube“ – ausgestorbene Tiere, die in den Texten durch Gentechnik wieder auf der Erde wandeln und unseren Kindern als Spielkameraden dienen werden. In der kurzen Pause werden viele Bücher gekauft und Autoren zu Kurzinterviews und Signaturen abgepasst. Danach liest Matthias Göritz aus seinem Sonetten-Kranz Automobile, in denen technische Details zum Autodiebstahl auf eine Roadmovie-Liebesgeschichte treffen. Die durchkomponierte Sprache mit Bezügen auf Musikstücke ist wunderschön. Der Lesungspart endet mit Oswald Egger mit Texten voller Neuschöpfungen wie „Filzegspinstes Ungezwirn“ aus Euer Lenz, der Schlusssatz lautet: „Ich habe nicht übertrieben viele Stieglitze gesehen.“ Vögel sind auf diesen Lyriktagen wohl überall, zumindest abwesend.
19:00 Uhr: Neben der Pillhofer Halle werden vor dem Regen geschützt zunächst Wein und Brötchen gereicht, dann beginnt die Preisverleihung mit einer Begrüßung durch den Bürgermeister Peter Tautscher (der Herr Staatssekretär lässt sich entschuldigen), darauf folgt eine etwas ausschweifende Laudatio von Thomas Poiss: „Kunst hat die Funktion, dass Fesseln gesprengt und abgestreift werden, wo sie zuvor nicht wahrgenommen wurden.“ Schön. Die Jury verleiht den Preis und schließlich liest endlich der Preisträger Franz Josef Czernin. Dabei werden die Gedichte zum Mitlesen auch auf einen Beamer projiziert, was das Verständnis erheblich erleichtert. Texte aus William Shakespeare. Sonnets, Übersetzungen, zungenenglisch. visionen, varianten und elemente, sonette trägt der Dichter mit bedächtiger, ergreifender Stimme vor. Jeden Text (außer den Übersetzungen) liest Czernin in unterschiedlichen akustischen Realisationen, die erst Verständnis ermöglichen. So wird beispielsweise „hautnah erzählend“ zu „hautnah Herz elend“ oder der „Vogelort“ zum „Vogel-Lord“. Die Redaktion ist begeistert. 





Sonntag, 14. Juni:
11:00 Uhr: Die Lyriktage enden mit einer Diskussion zum Thema Poesie und Erkenntnis, bei der sich Thomas Eder, Wolfram Pichler, Experte zur Bildtheorie vom Institut Kunstgeschichte, Klaus Reichert  und Franz Josef Czernin ins Gefecht stürzen. Die Debatte kommt von Ontologie, über Sprech- und Geschlechtsakte, Sprachvergleiche mit dem Englischen, Proust und Dante vom Hundertsten ins Tausendste. Vor allem das Wörtchen „blizzakt“ aus Czernins zungenenglisch wird analysiert, Interpretationen wie von einem Autounfall werden angeboten. In einem zweiten Teil werden Fragen aus dem Publikum besprochen, was der Verständlichkeit sehr zuträglich ist. Es wird viel gelacht und in wohlwollender Atmosphäre werden die Lyriktage beendet. 








Fazit:
Mit unzähligen abgestaubten Gedichtbänden, einigen Kilos mehr auf den Rippen dank den Buffets und dem „Borkenkäfer“, einem Schlafdefizit und vielen besonderen Eindrücken kehrt die Redaktion heim. Besonders die musikalische Performance und die Lesungen haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wir meinen: Es gehört mehr gejandelt!

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